Die umfassenden geopolitischen Folgen des Todes von Kim Jong-Il

Stephen Gowans

Seit dem Tod des nordkoreanischen Herrschers Kim Jong-Il im Dezember 2011 haben wüste Spekulationen über mögliche neue Kriegsgefahren durch das Land begonnen. Von Plänen Chinas ist unter anderem die Rede Truppen nach Nordkorea zu entsenden, auch die USA signalisieren Unruhe.

Doch wie gefährlich ist Nordkorea wirklich? Wie steht es um die mögliche Atommacht des Landes? In diesem Bericht von Stephen Gowans werden zahlreiche Fragen beantwortet.

1. Die amerikanische Außenpolitik gegenüber Nordkorea arbeitete

immer auf den Zusammenbruch dieses Landes hin, um es dann über eine Wiedervereinigung mit Südkorea in die amerikanische Einflusssphäre aufnehmen zu können1 – dies funktionierte solange, bis Nordkorea damit begann, Atomwaffen zu entwickeln.

Die Feindseligkeit der USA gegenüber Nordkorea hat ihren Ursprung keineswegs im Atomprogramm des Landes, das Atomwaffenprogramm Nordkoreas geht umgekehrt auf die Feindseligkeit der USA zurück. Diese feindselige Haltung der USA, die jetzt bereits seit 70 Jahren anhält, geht (wie eigentlich immer) auf die fälschlicherweise von den Amerikanern als marxistisch-leninistisch verstandenene Ideologie, die die USA ablehnen und abschaffen wollen (In der Zwischenzeit wurde der Marxismus-Leninismus durch die spezifische »Juche-Ideologie« der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit abgelöst), das Fehlen eines marktwirtschaftlichen Systems und seine selbstgesteuerte wirtschaftliche Entwicklung zurück.2 Alle diese Faktoren verhindern, dass die USA aus Nordkorea wirtschaftlichen Profit auf Kosten des Landes schlagen können. Daher steht dieses Land auf der Abschussliste.

2. Nordkorea begann erst mit der Entwicklung von Kernwaffen, nachdem die USA 1993 ankündigten, sie würden einige ihrer Atomraketen, die zuvor auf die Sowjetunion zielten, nun gegen Nordkorea richten. Seit jener Zeit gelang es dem Land allerdings nur, seine nuklearen Fähigkeiten sehr rudimentär zu entwickeln.3 Die Plutonium-Bomben, die 2006 und 2009 getestet wurden, entsprechen in ihrer Sprengkraft nur einem Zehntel der Sprengkraft [von 13 Kilotonnen TNT] der Hiroshima-Bombe. Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass Nordkorea in der Lage ist, einen Gefechtskopf soweit zu verkleinern, dass er auf die Spitze eine Rakete passt. Darüber hinaus wird das Raketenprogramm immer wieder von Rückschlägen heimgesucht und zurückgeworfen.4

3. Nordkorea ist in militärischer Hinsicht ein Winzling. Der Großteil der Soldaten wird in der Landwirtschaft eingesetzt. Die jeweiligen Militärhaushalte und die hochentwickelten Waffensysteme seiner Widersachern – allen voran die USA, Südkorea und Japan – überragen die Möglichkeiten Nordkoreas um ein Vielfaches. Nimmt man den Basketball-Spieler Magic Johnson mit seiner Größe von 2,10 Meter als Maßstab für den Verteidigungshaushalt des Pentagon, so besäße der nordkoreanische Militärhaushalt mit zweieinhalb Zentimetern gerade einmal die Größe einer kleinen Maus. Südkoreas Verteidigungshaushalt hätte dann in diesem Vergleich eine Höhe von 1,42 m und Japans eine Höhe von 1,13 m, sie liegen also um ein Vielfaches höher als die Rüstungsausgaben Nordkoreas.5

4. Nordkorea verfügt auch ebenso wenig über die Möglichkeiten, die USA zu provozieren, wie eine Maus [, um in diesem Vergleich zu bleiben,] auf dem Basketballfeld Magic Johnson Paroli bieten könnte. Ebenso wenig wäre es in der Lage, einen erfolgversprechenden Bürgerkrieg gegen seine südlichen Landsleute zu führen und zu gewinnen. Nordkorea stellt keine aggressive Bedrohung dar. Der New-York-Times-Journalist David Sanger erklärte: »Nach dem Verständnis Obamas ist Nordkorea dabei, in eine, wie es die führenden strategischen Berater des Präsidenten betrachten, ›Verteidigungs-Kauerstellung‹ zurückzufallen, in der sie [die Nordkoreaner] versuchen, die Welt mit einer Phalanx aus Raketen und Atomwaffentests abzuschrecken«... Da [Nordkorea] ständig kurz vor dem Verhungern steht und sein Militär so bankrott ist, dass es seine Piloten nicht ausbilden kann, macht sich das Land keine Illusionen darüber, dass es sich zu einer asiatischen Großmacht entwickeln könnte. Das Hauptziel besteht darin, zu überleben.6

5. Da die USA verglichen mit Nordkorea ein wahrer Riese sind, und Südkorea und Japan über besser ausgerüstete Streitkräfte verfügen, können sie in aller Ruhe den Norden provozieren und Pjöngjang auf diese Weise einen Rüstungswettlauf aufzwingen, der die Finanzmittel des Nordens verschlingt, und die USA auf diese Weise ihrem Ziel immer näher bringt, Nordkorea in eine anhaltende Krise und einen möglichen Zusammenbruch zu stürzen. Die regierende nordkoreanische Partei der Arbeit andererseits will Konfrontationen um jeden Preis verhindern, um einen endgültigen Zusammenbruch zu vermeiden und sich nicht als Folge dessen unter südkoreanische Verwaltung stellen zu müssen.

6. Daher finden Provokationen fast ausschließlich durch die andere Seite statt. Wenige Maßnahmen wirken provokativer als die Ausrichtung amerikanischer strategischer Raketen auf Nordkorea. Oder die Warnung des früheren amerikanischen Außenministers Colin Powell, das Pentagon könne Nordkorea in ein »Holzkohle-Brikett« verwandeln7. Die seit sechzig Jahren andauernde von Washington angeführte wirtschaftliche Kriegsführung gegen das Land stellt gleichfalls eine Provokation dar und ist einer der wesentlichen Gründe für die Armut des Landes. Entlang der Südgrenze Nordkoreas sind zigtausende amerikanische Soldaten stationiert, hinzu kommen Kriegsschiffe und nuklear bestückte U-Boote an den Grenzen der Hoheitsgewässer sowie amerikanische Kampfflugzeuge, die den nordkoreanischen Luftraum bedrohen. Pjöngjang ist zwar der unmittelbare Urheber seiner Politik des »Songun« [»die Armee zuerst«], die dem Militär Vorrang einräumt. Der eigentliche Grund und Auslöser dieser Politik sind aber die USA. Und nicht zuletzt veranstalten die USA und Südkorea regelmäßig Manöver, von denen eines mit dem Namen »Ulchi Freedom Guardian«, den Einmarsch in Nordkorea probt. Wer provoziert hier eigentlich wen?

7. Der verstorbene nordkoreanische Machthaber Kim Jong-il wurde in südkoreanischen Kinderbüchern tatsächlich als roter Teufel mit Hörnern und Reißzähnen dargestellt8. Und auch in den westlichen Medien wurde er ähnlich dämonisiert, weil er seine Bevölkerung verhungern lasse. Tatsächlich wird das Land immer wieder von Hungersnöten geplagt. Aber in den verunglimpfenden Nachrufen auf Kim wurde nicht auf die Gründe für die Hungersnöte in Nordkorea eingegangen. Es sind im wesentlichen die gegen das Land verhängte Sanktionen. Die amerikanische Außenpolitik verfolgt wie die Politik der Alliierten im Ersten Weltkrieg gegenüber Deutschland das Ziel, den Gegner durch Aushungern zur Kapitulation zu zwingen. Aus auf der Hand liegenden Gründen wird dies natürlich nicht öffentlich zugegeben. Den erstens würde ersichtlich, seit wie unmenschlich langer Zeit schon die amerikanische Außenpolitik daran arbeitet, ihr Ziel zu erreichen. Und zweitens kann der Hunger in Nordkorea dazu benutzt werden, Konzepte wie Volkseigentum und Planwirtschaft als funktionierende Wirtschaftsmodelle zu diskreditieren. Die Nordkoreaner hungern, so besagt der Mythos des Antikommunismus, weil Sozialismus nicht funktioniert. In Wahrheit aber müssen die Nordkoreaner hungern, weil Washington es so will. Es überrascht daher nicht, dass Forderungen humanitärer Gruppen nach amerikanischen Lebensmittellieferungen immer wieder mit der gleichen Litanei bizarrer Ausreden beiseite geschoben werden. Zuletzt behauptete man, man könne keine Lebensmittel liefern, weil Kim Jong-ils Sohn Kim Jong-eun zu dessen Nachfolger ernannte worden sei.10 Wie bitte? Der wirkliche Grund, aus dem keine Lebensmittelhilfslieferungen stattfinden, ist darin zu suchen, dass sie der amerikanischen Außenpolitik widersprechen. Die USA erklärten einmal zum Tod von einer halben Million irakischer Kinder, »dies sei es wert gewesen«.11 Den Tod ebenso vieler Nordkoreaner aufgrund der durch die Sanktionen bedingten Hungersnöte schätzen amerikanische führende Politiker wohl ebenso ein.

8. Der Tod Kim Jong-ils könnte der amerikanischen Außenpolitik einen enormen Schub verleihen. Innerhalb der nordkoreanischen Führung könnte es durchaus zu Auflösungserscheinungen kommen, und innere Konflikte könnte die Einigkeit zerstören. Anstatt sich auf die äußeren Bedrohungen zu konzentrieren, könnte die Führung gespalten werden und zu sehr mit der Nachfolgeregelung beschäftigt sein. Dies wäre dann aus Sicht der USA und Südkoreas ein entscheidender Moment – nämlich der Zeitpunkt, an dem das Land beginnt, zusammenzubrechen. Und wer würde in einem solchen Moment wohl eher eine Provokation starten? Pjöngjang oder Washington und Seoul? Pjöngjang würde selbst unter idealen Bedingungen eine Auseinandersetzung vermeiden wollen. In seinem jetzigen kritischen Zustand ist das sogar absolut notwendig. Aber dieses Kalkül könnte aus Sicht der »Räuber« als einmalige Chance verstanden werden. Denn jetzt befindet sich Nordkorea in einer sehr verwundbaren Lage, die Angreifern leichtes Spiel gewähren könnte.

9. Räuber lassen niemals öffentlich durchblicken, dass sie die Jäger sind. Sie stellen sich immer als diejenigen dar, die lediglich versuchen, sich gegen die vielfältigen Bedrohungen einer Welt, die immer gefährlicher wird, zu schützen. Mit List und Tücke könnte die Maus Magic Johnson vielleicht ausmanövrieren und einen Korbwurf oder sogar mehrere erzielen. Daher befänden sich die USA, Südkorea und Japan in »erhöhter Alarmbereitschaft« für den Fall, dass Nordkorea eine weitere Provokation vom Schlage der Versenkung der südkoreanischen Korvette Cheonan begehen (wobei die Beweise für eine nordkoreanische Beteiligung bestenfalls lachhaft sind) oder erneut die Insel Yeonpyeong beschießen (für diesen Beschuss trägt der Süden die Verantwortung trägt, weil er mit seiner Artillerie in umstrittene Gewässer feuerte), die nach Völkergewohnheitsrecht zum Norden gehört13.

Aber wir wir schon gesehen haben, ist mit einer Provokation seitens Nordkoreas kaum zu rechnen. Die wahrscheinlicher Erklärung für die erhöhte Alarmbereitschaft der USA, Südkoreas und Japans ist darin zu suchen, dass sie die gegenwärtige Situation als ideale Chance betrachten, den Druck auf Pjöngjang zu erhöhen und sich das Triumvirat möglicherweise bereits auf ein militärisches Eingreifen vorbereitet, sollten die Umstände dafür günstig sein.

 

 

Anmerkungen:

1. Der New York Times- Journalist David Sanger (What »engagement« with Iran and North Korea means, in: The New York Times, 17. Juni 2009) bemerkte: »Amerikanische Präsidenten waren nach dem Waffenstillstandsabkommen von 1953 sicher, sie könnten … den Zusammenbruch [Norkoreas] beschleunigen«. Der Korea-Experte Selig S. Harrison schrieb zur gleichen Zeit, »Südkorea arbeitet wieder einmal auf den Zusammenbruch des Nordens und die anschließende Übernahme durch Südkorea hin«. (What Seoul should do despite the Cheonan, in: The Hankyoreh, 14. Mai 2010.)

2. Nach Angaben von Dianne E. Rennack, (North Korea: Economic sanctions, in: Congressional Research Service, 17. Oktober 2006) wurden als Grund für viele der amerikanischen Sanktionen einfach nur pauschale Begriffe wie »Kommunismus«, »das Fehlen einer Marktwirtschaft« oder »Kommunismus und Störungen des Marktes« angeführt.

3. In einem Artikel über die Phantastereien Newt Gingrichs, Nordkorea oder der Iran könnten in großer Höhe über den USA eine Atombombe zur Explosion bringen, die dann einen gigantischen Elektromagnetischen Impuls auslösten, zitierte der New-York-Times-Jorurnalist William J. Broad einen amerikanischen Militärexperten, der »die Ambitionen der betreffenden Nationen in Bezug auf Atomwaffen so einstufte, dass diese noch in den Kinderschuhen steckten«. (Among Gingrich’s passions, a doomsday vision, in: The New York Times, 11. Dezember 2011.

4. Keith Johnson, Pyongyang neighbors worry over nuclear arms, in: The Wall Street Journal, 20. Dezember 2011.

5. Der Verteidigungshaushalt in Milliarden Dollar: USA 700; Nordkorea 10; Südkorea 39; Japan 34. Mit Ausnahme des Pentagon-Haushaltes wurden die jährlichen Militärausgaben (in Dollar) dadurch errechnet, dass man das BIP des betreffenden Landes mit dem in Prozent ausgedrückten Anteil der Militärausgaben am BIP, so wie er von der CIA ermittelt und im World Factbokk der Behörde aufgenommen wurde, multiplizierte. Die Zahlen für den Militärhaushalt des Pentgon lieferten Tom Shanker and Elisabeth Bumiller, Weighing Pentagon cuts, Panetta faces deep pressures, in: The New York Times, 6. November 2011.

6. David Sanger, What »engagement« with Iran and North Korea means, in: The New York Times, 17. Juni 2009.

7. »Colin Powell erklärte, sie würden … Nordkorea in einen ›Holzkohle-Brikett‹ verwandeln, in dieser Sprache rede man mit Nordkorea, auch wenn die etablierten Medien dieser Art von Gesprächen keine Aufmerksamkeit schenke. Ein Holzkohle-Brikett.« Bruce Cumings, Latest North Korean provocations stem from missed US opportunities for demilitarizaton, in: Democracy Now!, 29. Mai 2009.

8. David E. Sanger, A ruler who turned North Korea into a nuclear state, in: The New York Times, 18. Dezember 2011.

9. Siehe auch Stephen Gowans, Amnesty International botches blame for North Korea’s crumbling healthcare, in: What’s Left, 20. Juli 2010.

10. Evan Ramstad und Jay Solomon, Dictator’s death stokes fears, in: The Wall Street Journal, 20. Dezember 2011.

11. Auf die Frage zu einer Schätzung der Vereinten Nationen, dass die Sanktionen zum Tode von 500.000 irakischen Kindern im Alter von weniger als fünf Jahren geführt hätten, erklärte die damalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright: »Es war eine harte Entscheidung, aber ich denke, es war es nach unsere Ansicht wert«. (in: 60 Minutes, 12. Mai 1996; abgefragt am 19. Juni 2011.

12. Siehe dazu auch: Tim Beal, Crisis in Korea: American, China and the Risk of War, 2011.

13. Siehe dazu: Stephen Gowans, US Ultimately to Blame for Korean Skirmishes in Yellow Sea, in: What’s Left, 5. Dezember 2010;